Autor: Thomas Escher
„Wie machen Sie Ihre Zigaretten?“, fragt Don Draper den sichtlich verdutzten Lucky-Strike-Chef Lee Garner in der ersten Staffel von „Mad Men“, der legendären US-Serie über eine New Yorker Werbeagentur. Auf die Frage von Don Draper, seines Zeichens Kreativdirektor auf der Suche nach einer innovativen Werbeaussage für den Zigarettenhersteller, entwickelt sich dieser brillante Dialog: „Nun, wir züchten Tabaksamen“, antwortet Garner, „die säen wir und lassen den Tabak im Sonnenschein von North Carolina wachsen, wir ernten ihn, lassen ihn reifen, toasten ihn…“ Don Draper: „Das ist es: Lucky Strike – it’s toasted.” Lee Garner: „Aber der Tabak anderer Hersteller ist auch getoastet.“ Don Draper: „Nein, der Tabak anderer Hersteller ist giftig: Lucky Strike’s is toasted.“ Draper hält einen Moment inne – und in Sekundenbruchteilen entfaltet sich ein ödes Kundengespräch zum okkulten Ritual, in dem sich der berufene Messias anschickt, der perplex lauschenden Kongregation den Kern seiner religiösen Wahrheit zu offenbaren: „Werbung fußt auf einer einfachen Formel: Freude.“
„Werbung fußt auf einer einfachen Formel: Freude.“ – Don Draper
Auch wenn die Figur des Don Draper noch gar nicht erfunden war, als Lucky Strike seinen berühmten Slogan „It’s toasted“ 1917 zum ersten Mal einsetzte, bringt Matthew Weiner – Erzähler und Schöpfer der „Mad Men“-Serie – die damalige Gemengelage der Werbeindustrie auf den Punkt. In den ungesättigten Märkten der 1960er Jahre war die Aufgabenstellung für Agenturen simpel: Verknüpfe Standardprodukte mit individuellen Wohlfühlbotschaften um zu verkaufen. Und obwohl dieses Allgemeinrezept aus heutiger Sicht eher eindimensional erscheint, hat es eine ganze Weile prima funktioniert. Warum? Aus zwei Gründen. Erstens: Konsumenten hatten wenig Auswahl. Weder standen Märkte im direkten globalen Wettbewerb, noch waren sie für den Endkomsumenten transparent. Ergo entschied oft die geografische Lage und Verfügbarkeit über den Kauf eines Produkts. Zweitens: Aufgrund der extremen Durchdringung der Massenmedien hatten Marketers leichtes Spiel, ihre Wohlfühlbotschaften ohne großen Aufwand an eine Heerschar potenzieller Käufer zu distribuieren. Allein aufgrund dieses Nachfrageüberhangs hatte die Freudenformel von Don Draper jahrzehntelang Erfolg. Bis – nun bis sie Ende der 90er ins Wanken geriet und sich seither auf dem absteigenden Ast befindet.
Nike+: Digitale Integration vom Feinsten
Mit der Wachablösung analoger Verkaufsprinzipien durch das Internet und der damit einhergehenden Wettbewerbsverdichtung wird es für Hersteller immer schwerer, ihre Produkte als Massenware zu vermarkten. Bis Ende der 1990er Jahre behalf man sich herstellerseitig kurzerhand damit, den ehrgeizigen Wachstumsstrategien renditesüchtiger Manager mit dem Zukauf vor- bzw. nachgelagerter Wertschöpfungsketten gerecht zu werden. Doch Mitte der 2000er fiel es selbst erfolgreichen Markenartiklern wie Nike schwerer, an frühere wirtschaftliche Erfolge anzuknüpfen. Die Schuhverkäufe des Sportartikelherstellers aus Oregon waren Mitte 2000 rückläufig und guter Rat für den frisch berufenen CEO Mark Parker teuer. Wie teuer bleibt spekulativ. Tatsache ist: Parker revolutionierte damals das Geschäftsmodell von Nike. Er schnitt alte Zöpfe ab – repositionierte den Sportartikelhersteller kurzer Hand zur Lifestyle-Marke. Parker war der erste CEO, der erkannte, dass er sich für einen nachhaltigen Erfolg in transparenten gesättigten Märkten die Frage stellen musste: „Wie kann ich meinen Kunden mit zusätzlichen Nike-Services helfen?“, als vielmehr „Welches Produkt kann ich ihnen als nächstes verkaufen?“ Die erste brillante Antwort auf diese Frage gab Nike 2006, verpackt in einen digitalen Service Namens Nike+ – eine Webseite, mit der Sportler ihre Trainingsergebnisse speichern und vergleichen können. In den Anfängen von Nike+ war zur Datengenerierung ein bestimmter Nike Turnschuh erforderlich, der via Transmitter mit dem iPod des Athleten verbunden wurde. Mittlerweile stellt Nike den Service in Form einer mobilen App zur Verfügung, die mittlerweile von mehr als 21 Millionen Sportfans rund um den Erdball genutzt wird. Der große Erfolg von Nike+ gab Parker das nötige Fundament, um seine digital integrative Strategie zu erweitern und andere digitale Nike-Produkte auf den Weg zu bringen. Heute bietet der Sportausstatter eine Vielzahl tragbarer Tech-Produkte – vom Nike FuelBand über Pulsmesser bis hin zu einem Kinect Game für Indoortraining. Anstatt einfach einen weiteren Sportschuh auf den Markt zu werfen, nahm Nike die Mühen und das Risiko auf sich, sein Geschäftsmodell zu verändern: Weg vom reinen Produkthersteller hin zum integrierten Serviceanbieter. Nike ist heute weniger Hersteller als vielmehr Partner, der seinen Mitgliedern bei der Erreichung ihrer individuellen sportlichen Ziele zur Seite steht.
Post-Advertising Era: Madison Avenue trifft Silicon Valley
Neben Nike erkennen offensichtlich auch andere große Marken die Vorzüge und Perspektiven eines digital integrativen Geschäftsmodells. Marketers unterschiedlicher Lager teilen offensichtlich die Meinung, dass bestehende Produkte mit nutzwertigen digitalen Diensten verknüpft werden müssen, um Kunden langfristig bei der Stange zu halten. „Reife“ Käufer glauben nicht länger an seichte Werbeaussagen. Die Drapersche Freudenformel hat für sie ausgedient. Vielmehr rücken nutzwertige Marken-Ökosysteme in den Mittelpunkt des Käuferinteresses. Neben Apple liefern Google und Amazon dafür die Blaupause. Viel spannender ist allerdings, das auch tradierte Brachen in diesem Ansatz einen Mehrwert für sich erkennen. Beispiel: John Deere. Wie gelingt es einem bodenständigen, auf Landmaschinen spezialisierten Unternehmen aus Illinois eine digital integrierte Produktstrategie zu etablieren? Die Antwort kommt in Form einer App namens „Mobile Farm Manager“ – ein iOS-basierter Dienst, der Landwirten unter anderem dabei hilft, mit Datenanalysen die Bodenqualität von Agrarflächen zu erhalten, auf interaktive Ackerkarten zuzugreifen oder die Art und sinnvolle Menge auszubringender Düngemittel zu eruieren. Die App wird mit Standardprogrammierschnittstellen zur John Deere Farmmanagementsoftware „Apex“ geliefert und bettet sich damit in ein ganzheitliches Marken-Ökosystem ein, das mit jedem weiteren Service zusätzliche Wertschöpfung für die Kundenbasis von John Deere liefert. Ähnlich und doch anders sind die Bemühungen von Red Bull sein Extremsport-Event „Crashed Ice“ in die Wohnzimmer begeisterter Fans zu bringen. Mit einem gleichnamigen Kinect Game bietet der Zuckerbrausehersteller jedem interessierten Fan die Möglichkeit, am virtuellen Pendant des realen „Crashed Ice“-Wettbewerbs teilzunehmen – und liefert damit nichts anderes als ein witziges, greifbares Markenerlebnis für potenzielle Käufer.
„Veränderung ist weder gut noch schlecht – es gibt sie einfach.“ – Don Draper
Die neue Welt der Werbung gehört denen, die fähig sind, zu innovieren – schlaue Denker, denen es gelingt, Produkte und Services wechselseitig in ganzheitlichen Ökosystemen zu verflechten. Kurz gesagt: Wer es nicht schafft, Nutzwert für seine Kunden zu kreieren, der tut gut daran, mit einem Headhunter Brachenalternativen zu diskutieren. Die Werbeindustrie muss sich neu erfinden, um nicht noch weiter an Deutungshoheit in Unternehmenszentralen zu verlieren. Übrigens eine Weisheit, die schon Draper in seiner Zeit als amtierendes Orakel der Branche ins Feld führte: „Veränderung ist weder gut noch schlecht – es gibt sie einfach.“
Text: Thomas Escher
Illustration: Belinda Förner, grasundsterne
Übersetzung: Toby Skingsley
Dieser Beitrag erschien zuerst am 16.07.2015 auf digtator.de, einem Medienprodukt von grasundsterne.